Marc Alexandre Dumoulin
Hello Cutie, 2023
700 €
BestellenHast du dir jemals ein Skelett genau angesehen? Wie komplex es ist? 206 Knochen. Davon befinden sich allein 106 in Händen und Füßen. Was für ein evolutionäres Wunder! Denk nur an die Jahrtausende der Evolution, die letztlich seine Form und Feinheit hervorgebracht haben. Was für ein seltsamer, verkalkter Schwamm.
Es erinnert mich an eine grundlegende Wahrheit über die Natur: dass die Natur zutiefst übermäßig ist. Sie drückt sich durch Verschwendung aus. Hör mir zu. Die Sonne fusioniert 600 Millionen Tonnen Wasserstoff pro Sekunde. Sie verschwendet Energie wie nichts anderes im Sonnensystem. Daraus entstehen Hitze und Licht, die nach außen strahlen, schließlich unseren Planeten erreichen und die Bedingungen für Leben schaffen. Die Flora der Erde wächst daraufhin und streckt sich den Sonnenstrahlen entgegen, hungrig nach Wärme, nach Licht, nach Leben. Pflanzen wachsen an den unwahrscheinlichsten Orten; sie winden sich in unmögliche Formen, stürzen übereinander, dringen in andere Arten ein, sterben, verrotten und düngen den Boden für zukünftige Generationen. All das nur, um sich im Licht der Sonne zu baden.
Tiere fressen Pflanzen. Dann wiederum fressen sie verletzlichere Tiere oder werden von größeren, stärkeren Raubtieren gefressen. Insekten laben sich an den Kadavern der Tiere. Pflanzen fressen Insekten. Arten sterben, andere werden geboren. Dieses natürliche Gelage von Fressenden und Gefressenen, vom Entstehen und Zurückkehren zur Erde, dauert seit Millionen von Jahren an, und genau das macht es möglich, dass komplexe Lebensformen entstehen. Die Evolutionstheorie beschreibt eine Welt, die auf den Leichen vorhergehender Generationen gedeiht. Das Leben verschwendet, und verschwendet, und verschwendet, und es ist diese ungeplante Großzügigkeit, die es ermöglicht, dass sich Paradigmen verschieben, dass neue Lebensformen Gestalt annehmen. Dass sich die Knochen in unserem Skelett langsam verändern und an eine passendere Form anpassen, eine Form, die weniger leicht gefressen wird.
Nicht nur ist die Menschheit das Produkt dieser natürlichen Überfülle, auch die Tatsache, dass wir kulturelle Wesen sind, könnte als evolutionäres Merkmal betrachtet werden. Uns fehlen die Krallen und Reißzähne eines Raubtiers. Uns fehlt die Wendigkeit einer Beute. Wir mussten uns in Gruppen zusammenschließen, um zu überleben; wir mussten Arbeit und Fürsorge teilen. Die Geschichten, die wir uns erzählten, und die Symbole, die wir austauschten, wurden zentral für die Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an sozialem Zusammenhalt – sie sicherten das Fortbestehen unserer Art. Wir horten Geschichten und Symbole als Trost. Eram quod es; eris quod sum – „Ich war, was du bist; du wirst sein, was ich bin.“ Diese Zeilen von Horaz zieren unzählige Grabsteine auf der ganzen Welt.
Wir haben uns zu einer Art entwickelt, die von Mythen geprägt ist.