UM-KEHRUNGEN
19,80 €
„Kunst ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist.“ (Karl Kraus, Pro Domo Et Mundo)
Für Karl Kraus war die Kunst eine Möglichkeit, von der Welt zu abstrahieren, um sie konkret sehen zu können. Die Ausstellung Um-Kehrungen im Haupthaus nahm diese Vorstellung auf und zeigte junge, künstlerische Strategien, die sich vom denkbar konkretesten Standpunkt heraus dem nähern, was uns täglich als Welt begegnet, nämlich dem persönlichen Erfahrungshorizont. Nicht das Übergeordnete, Allgemeine ist hier Ausgangspunkt der Auseinandersetzung, sondern ein Ansatz, der vom Vertrauten und Privaten ausgeht. Das ausdrücklich Persönliche trägt das Allgemeingültige in sich. Auf der Grundlage einer Produktion von Mikrowelten eröffnen sich neue Perspektiven auf das Vertraute. Im Sinne von Kraus wird der subjektive Ansatz zum Hebel, den Blick auf das Bekannte „um-zu-kehren“ und damit Welt neu zu erschaffen – auf der Grundlage dessen, was als Welt bereits vorgefunden wird.
Oft setzen die Künstler/innen in Um-Kehrungen privates, alltägliches Material ein, um sich unbekannten Zuständen zu nähern. Das Vertraute wird im Fremden gesucht, das Fremde auf der Grundlage des Bekannten fassbar. So stellt etwa Carol Bove gebrauchte und damit aufgeladene Gegenstände wie Bücher, Tische, Zeitschriften und Designobjekte vom Ende der 1960er, Anfang der 1970er (dem so genannten New Age) zusammen, um mit dem Blick aus der Gegenwart die Faszination gesellschaftlicher Entwicklungen einer vergangenen Zeit zu untersuchen. Klara Liden kriecht unter den ausgelegten Teppichboden ihrer Galerie und durchquert den ihr bekannten Raum auf diese Weise – dabei die Auslegeware zu einer länglichen Skulptur verformend. David Blandy macht sich in der orangefarbenen Robe des Shaolin Mönchs und mit einem tragbaren Kassettenrecorder in der Hand auf die leicht schlurfende Suche nach seinen kulturellen Wurzeln und unterlegt seinen Weg durch englische Parks oder Großstadtschluchten mit Filmsequenzen aus Fantasy und Science-Fiction. Jonathan Monk begibt sich mit seiner Mutter auf eine Autofahrt zu seiner Schwester und fotografiert immer dann die Umgebung durch die Frontscheibe des Wagens, wenn die Mutter an den Straßenrand fährt, um sich des richtigen Weges zu versichern. Kathrin Horsch geht 72 Tage zum identischen Gemüsestand und bestellt einen frischen Möhrensaft. Auf der Grundlage des täglichen Dialoges bei der Bestellung entsteht ein Hörspiel mit begleitendem Drehbuch, das die Absurditäten des Alltags offenbart. Özlem Sulak lässt Großmutter und Großtante vom Umzug der Familie von Sarajewo ins ländliche Anatolien der 1930er Jahre erzählen und wirft so einen sehr persönlichen Blick auf Diskursbegriffe wie „ethnische Identität“ und „Migration“. Oder Gert Robijns hängt ein Fensterrollo auf – der klassische Schutz der Privatsphäre vor unerbetenen Blicken. Doch befestigt er es nicht vor einem Fenster, sondern auf der Wand, und funktioniert die Oberfläche zu einem malerischen Bildträger um.
Doch „das, was Welt wird“, kann auch durch die Betonung des Fremden im Vertrauten entstehen, die den durch Gewohnheit bestimmten Blick produktiv in Frage stellt. So erinnert sich Daniel Roth einmal bereister Orte oder Märchen der Kindheit und macht sie zum Ausgangspunkt von variationsreichen Bildgeschichten, die unmerklich von der Realität in Fiktion übergehen. Patrick Rieve kreist den eigenen Lebensbereich auf eine Weise zeichnerisch ein, die die Perspektive des Persönlichen durch die Übertragung unterschiedlicher gedanklicher und visueller Systeme auf den konkreten Lebensraum verlässt und zu einer allgemeinen Suche nach dem eigenen Standpunkt in der Welt wird. Sofia Hultén findet einen Karton mit kleinen, persönlichen Gegenständen eines vormaligen Hausbewohners und entfernt alle Hinweise auf die Individualität der Objekte oder die Person des ehemaligen Besitzers. Udo Koch vermisst die Abstände zwischen den Blättern seiner Zimmerpflanze und überträgt sie nach mathematisch genauen Vorgaben in geheimnisvolle Skulpturen und Zeichnungen, deren Herkunft aus dem Bekannten sich kaum noch nachvollziehen lassen. Peter Piller sammelt in Tageszeitungen veröffentlichte Steckbriefe von Bankautomatenbetrügern – fotografiert von einer versteckt installierten Kamera im Moment ihres Betruges: Das persönliche Portrait wird öffentlich und belegt die Täterschaft. Malte Urbschat überführt konkrete Erfahrungen des eigenen Körpers in abstrakte Installationsanordnungen. Annika Ström inszeniert in All my dreams have come true eine Debatte in ihrem Elternhaus: ihre bügelnde Mutter diskutiert mit einem älteren Freund der Familie über die korrekte englische Formulierung des titelgebenden Satzes, die dessen inhaltliche Bedeutung und die Frage nach seiner Erfüllung im eigenen Leben unberührt lässt. Und Hans Schabus macht das eigene Atelier zum Ausgangspunkt seiner Erkundungen von Welt, indem er von dort einen Schacht von Babel gräbt.
So unterschiedlich die künstlerischen Ansätze in Um-Kehrungen auch sein mögen, ist ihnen ein stark atmosphärischer Aspekt und, dem persönlichen Ansatz zum Trotz, ein distanzierendes Prinzip zu eigen. Durch die Herauslösung des Bekannten aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen und die damit einhergehende Um-kehrung des Blicks wird ein Moment der Distanz im Umgang mit dem, was ist, gleichsam zwischengeschaltet, um Welt lesen oder, nach Karl Kraus, Welt werden zu lassen.
Anlässlich der Ausstellung erschien ein Katalog in deutsch-englischer Sprache mit Kurztexten zu allen beteiligten Künstler/innen, einer ausführlichen Bilddokumentation sowie einem Text von Lars Bang Larsen zur künstlerischen Welterfassung auf der Grundlage des Vertrauten, Persönlichen und Privaten.
Die Ausstellung wurde gesponsert von Veolia, Alba und der Niedersächsischen Lottostiftung.